Jams und Verletzungen

Jams und Verletzungen

Ursachen und Lösungen

Verletzungen gehören zu jedem Sport dazu! Das ist nun einmal Tatsache, wenn man nicht gerade Schach spielt. Parkour und Freerunning sind da keine Ausnahme. Vor allem Parkour & Freerunning verfügen ab einem gewissen Level oder unter gewissen Umständen über ein erhöhtes Risiko. Es ist meist so gefährlich wie man es sich macht. Wer etwas anderes behauptet, dem würde ich vorschlagen mal einen Gap in Höhe zu bailen, um seine Ansicht unter Beweis zu stellen.

Wer sich dessen nicht bewusst ist, sollte nochmal in sich gehen und sich Gedanken machen. Die vielen, teils schweren Verletzungen, die ich in letzter Zeit immer mehr auf Parkour Jams wie KRAP, Passion etc. gesehen habe, haben mich nachdenklich gemacht und sind der Grund warum ich das schreibe.

Die Tatsache, dass andere Leute wie Luke Brandenburg von MHPKG sich auch damit auseinandergesetzt haben, hat mich darin bestätigt diesen Artikel zu schreiben und meine Gedanken mit der Community zu teilen.

Ich will in diesem Artikel nicht weiter auf die Gefahren von Parkour auf einem höheren Niveau eingehen, da ich denke, dass dies ein Thema für sich ist. Aus aktuellem Anlass finde ich die Gefahren bei Parkour Jams wichtiger für die Community und primär für Anfänger. Die meisten von euch waren sicherlich bereits auf einer Jam oder einem mehrtägigem Event, kennen die Atmosphäre und wissen wie diese ablaufen. Für diejenigen unter euch, die noch nie auf einer waren will ich dies kurz skizzieren.

Im Prinzip ist dies ein großes Treffen, an dem sich Traceure und Freerunner, je nach größe der Jam, aus der Region, dem Land, Europa oder der ganzen Welt in einer Stadt treffen und zusammen trainieren, chillen, sich austauschen und einfach eine gute Zeit haben. Daran ist auch nichts verkehrt und es fördert, meiner Meinung nach, den Zusammenhalt der Community, pflegt alte und ermöglicht neue Freundschaften. Es verbindet auch Menschen aus verschiedenen Kulturen, Ländern und anderen sozialen Gruppen nur alleine durch den gemeinsamen Spirit für Parkour und Freerunning und sorgt so für einen Austausch, den kein gefördertes Programm mit dieser Leichtigkeit hinbekommt. Ich habe durch solche Events zahlreiche Freundschaften in der ganzen Welt geschlossen und immer noch Kontakt zu diesen Menschen und freue mich jedes Mal diese wieder zu sehen oder neue Leute kennenzulernen.

Geschlafen wird bei Jams meist in zur Verfügungen gestellten Sporthallen oder der Eventlocation auf Isomatten und Schlafsäcken. Gegessen wir was auf den Tisch kommt (falls die Veranstalter überhaupt für Verpflegung sorgen) oder was der örtliche Supermarkt oder diverse Fastfood Restaurants anbieten. Trainiert wird bis zur Erschöpfung und am Ende gehen alle mit einem guten Gefühl und unvergesslichen Erinnerungen, die sie mit neuen und alten Freunden teilen, nach Hause.

Leider gibt es aber auch die Schattenseiten von Jams, zu denen auch ein erhöhtes Verletzungsrisiko gehört. Aber woher kommt das?

Ein paar von euch waren vielleicht auf der diesjährigen Passion (2014) in Bremen und wurden Zeuge von übermäßig vielen Verletzungen: Knochenbrüchen, ausgeschlagenen Zähnen, Bänderrissen, Knieverletzungen, Prellungen und ausgekugelten Fingern.

Als Coach vor Ort auf dem Fastbreak Parkour Stand habe ich all diese mitbekommen und mehrmals die Sanitäter rufen müssen und den Verletzten beigestanden oder zumindest dafür gesorgt, dass sich keine Schaulustigen um sie bilden oder das ganze gar filmen, was ich persönlich sehr makaber finde!

Jedes Mal, wenn sich jemand verletzt hat dachte ich mir nur „F**K, nicht schon wieder. Was ist denn heute los!?“

Dies war leider nicht die Ausnahme. Bei KRAP Invaders glich der Eingangsbereich nach 3 Tagen mehr einem Lazarett als einem Parkour Gym. Ebenso die FAM Jam, bei der sich am Ende auch einige Leute verletzt hatten. An dieser Stelle will ich weder die Organisatoren noch jemanden anderen persönlich angreifen oder ihnen die Schuld zuschieben. Auch hier spielen viele Faktoren eine wichtige Rolle, für die die Organisatoren nichts können oder welche ihnen nicht bewusst sind!

Faktoren, die das Verletzungsrisiko erhöhen

Das Ganze hat nicht nur mich, sondern auch viele andere Athleten sehr nachdenklich gemacht und die Stimmung gedrückt. In Gesprächen und auf den Heimfahrten hatte ich die Möglichkeit einige mögliche Faktoren dafür auszumachen:

Mangelnder Schlaf

Wie es bei solchen Events üblich ist, schlafen die meisten Teilnehmer in der Halle auf Isomatten und in Schlafsäcken, da viele Jugendliche nicht die finanziellen Mittel haben um sich ein Hotel oder Hostel für diese Zeit zu buchen. Daher ist die kostengünstige Möglichkeit in der Halle zu schlafen sehr willkommen. Im Prinzip spricht auch nichts dagegen. Das habe ich auch oft genug gemacht und hatte dabei eine gute Zeit. Leider sind die Hallen meistens mit bis zu 200-300 Leuten voll und ähneln mehr Flüchtlingslagern als Schlafsälen und nicht alle halten sich an die Ruhezeiten. Es reicht ein geringer Prozentsatz von Leuten, die noch trainieren, reden, Musik hören, rummachen oder einfach zu ihrer Belustigung die anderen abfucken wollen, um diese Ruhe zu stören und für wenig Schlaf zu sorgen. Da helfen am nächsten Tag auch die Powernaps nicht wesentlich.

Ich musste bei der Passion tatsächlich mit Leuten darüber diskutieren, warum die Ashigaru, Air Wipp und Fastbreak Athleten nicht auch in der Halle schlafen? Ob wir uns für etwas Besseres hielten und nicht bei der Community sein wollen? Ich fand das sehr unfair und habe erklärt, dass sich keiner von uns für einen Rockstar hält, uns aber bei solchen Events genug Schlaf und Ruhe wichtig wären und wir daher lieber im Hotel oder Hostel schlafen würden.

Ich trainiere gerne mit der Community und tausche mich auch mit anderen aus. Aber wenn ich schlafen will, dann will ich schlafen und mich nicht mit hyperaktiven Kids herumschlagen.

Erschöpfung und Unkonzentriertheit

Resultierend aus dem Schlafmangel folgt schnellere Erschöpfung und Unkonzentriertheit.

Die meisten Teilnehmer reisen schon am Vortag an und fangen instant an zu trainieren bis spät in die Nacht. Dann geht es nach ein paar Stunden Schlaf direkt weiter. Viele sind es auch gar nicht gewohnt so viel und mehrere Tage am Stück zu trainieren und pushend sich deshalb um ja nichts zu verpassen und mithalten zu können. Der Körper macht dies nur begrenzt mit. Gefährlich wird es wenn man unkonzentriert ist, aber unbedingt Sachen auf hohem Niveau probieren will. Selbst kleine Fehler erhöhen das Risiko, da auch die Reaktionszeit nachlässt und man zum Teil Sprünge bailt, die man fit leicht abgefangen hätte.

Das Verhalten des sich trotz Überanstrengung pushens wird nicht nur nicht von anderen kritisiert, es wir sogar gefördert und glorifiziert. Wenn Pausen gemacht werden, dann wird sich oft auch nicht wieder warm gemacht, sondern direkt dort angesetzt wo man aufgehört hat. Ich habe Leute gesehen, die an die Location kamen, ihre Taschen in die Ecke geworfen haben und sich unaufgewärmt an Maximalsprüngen probiert haben, getreu dem Motto „Aufwärmen ist was für Mikrowellen“.

Schlechte Ernährung

Ein weiterer wesentlicher Faktor ist die schlechte Ernährung. Wie vorhin erwähnt wird bei Jams oft das gegessen was der Veranstalter gerade da hat. Dass es sich dabei aus Kostengründen meistens nicht um qualitative Nahrung handelt, versteht sich denke ich von selbst. Kein Veranstalter kann bei so vielen Teilnehmern für gutes Essen sorgen, ohne den Preis hoch zu treiben. Wenn man Glück hat gibt zumindest Obst und Wasser.

Viele Veranstalter verzichten daher ganz auf die Verpflegungen der Teilnehmer und empfehlen Restaurants und Supermärkte in der Nähe. Dies wäre auch eine gute Option, wenn sich nicht sehr viele Leute von Fastfood, Chips, Süßzeug und anderem Müll ernähren würden, der sich negativ auf die Leistungsfähigkeit auswirkt.

Getrunken werden zudem gerne Cola, sowie Energy-Drinks und andere Aufputschgetränke, die kurzzeitig die Leistung steigern, aber danach noch mehr herunterziehen. Folglich wird noch mehr getrunken, bis der Koffeingehalt zu Unruhe, Nervosität, Übelkeit und Schlaflosigkeit führt, was sich wieder negativ auf die Leistung auswirkt.

Es ist schockierend was Traceure & Freerunner alles essen und wie wenig sie sich mit ihrer Ernährung auseinander setzen.

Stress

Die Umgebung bei Jams ist häufig sehr stressig. Es ist laut, voll, teilweise überfüllt und man musst deshalb ständig aufpassen nicht im Weg zu stehen oder jemanden anderen zu gefährden. Wir realisieren dies gar nicht so sehr bewusst, aber innerlich sind wir dadurch sehr vielen Stressreizen ausgesetzt und in ständiger Alarmbereitschaft.

Die vorangegangenen Faktoren erhöhen dies nur noch zusätzlich.

Gruppendynamik und Druck

Hinzu kommt das Phänomen der Gruppendynamik, die sich sehr negativ entwickeln kann. Individuen fangen in Gruppen häufig an sich anders zu verhalten, als wenn sie alleine sind.

Das gilt dementsprechend auch für ihr Training. Es kann sehr nützlich sein in einer kleinen Gruppe zu trainieren, da man sich gegenseitig Tipps oder Hilfestellung geben kann. Aber ab einer gewissen Gruppengröße wird es eher kontraproduktiv, da man nicht mehr gezielt trainiert und sich zum Teil an Leuten orientiert, die viel länger trainieren und mehr Erfahrung haben. An sich ist es nichts schlechtes sich an erfahrenen Leuten zu orientieren, problematisch wird es nur, wenn man versucht Sachen zu machen für die man noch nicht bereit ist, weil man denkt das man es ja schon hinkriegt, wenn es jemand einem erklärt.

Dass diese Personen aber über die Jahre die ganzen kleinen Zwischenschritte gegangen sind, die Notwendig sind um eine Technik zu meistern, fällt dabei meist unter den Tisch. Viele Anfänger sehen nur den Status Quo, die neusten Techniken und Tricks von erfahrenen Traceuren & Freerunnern, aber nicht die unzähligen Stunden, die diese damit zugebracht haben auf einem Geländer zu balancieren, kleine Sprünge und Krafttraining zu machen oder sich zu dehnen. Man sieht selten Anfänger, die auf Repetition bei Jams trainieren und einen Sprung 100 mal drillen, bis er wirklich sitzt. Stattdessen herrscht eine Abhakzettel-Mentalität: Einmal gemacht. Check. Der nächste Sprung. Einmal unsauber gemacht. Check usw.

Dieses Verhalten geht oft auf den Druck zurück, den man sich selbst macht. Und dieser Druck führt dazu, dass man am Ende Dinge versucht, die man lieber noch sein lassen sollte. Die Gruppe zwingt einen nicht etwas zu machen! Es ist eher so, dass es das eigene Ego ist, das einen antreibt, weil man sich beweisen und profilieren will. Man will krass sein und von den anderen für das was man kann bewundert und respektiert werden. Schwaches Selbstbewusstsein führt zusätzlich dazu, dass man nicht zurücktreten will von einem Sprung, wenn andere zuschauen. Ich vermute, dass sich gerade niemand angesprochen fühlt, da ja jeder nur für sich trainiert… glauben wir zumindest.

Fehlende Selbsteinschätzung

Aus mangelnder Erfahrung und einer verzerrten Wahrnehmung folgt eine fehlende Selbsteinschätzung. Die vorangegangenen Faktoren begünstigen das nur noch zusätzlich.Dies kann zu ernsten Folgen wie akuten oder gar chronischen Verletzungen führen.

Der Aufbau und die Obstacles

Meiner Meinung nach ist dies kein ausschlaggebender Grund, da man immer auf seinem eigenen Niveau trainieren sollen könnte. Allerdings kann ein Aufbau, der mehr an erfahrenen Leute gerichtet ist, Anfänger eher dazu verleiten sich zu überschätzen und große Sachen zu probieren und die anderen genannten Faktoren sorgen dann schon für den Rest.

Falsches Mindset

Vor einigen Jahren herrsche bei Parkour Jams und größeren Treffen oder vielleicht sogar generell ein anderes Mindset für Parkour. Es wurde trainiert um besser zu werden und nicht um besser zu sein. Man hat sich anders mit seinem Training auseinander gesetzt und auch andere Sachen an Anfänger vermittelt.

Genau daran erkennt man in großen Gruppen oft wer schon lange dabei ist. Ruhig, kennt die eigenen Grenzen, arbeitet an seinen eigenen Aufgaben und Herausforderungen, anstatt mit der Gruppe von Herausforderung zu Herausforderung zu treiben.

Der Anfänger ist oft hier und dort, steht nervös vor jedem Sprung, geht wieder, kommt zurück, geht wieder und wechselt zwischen der handvoll Highlights und Spots, die für ihn erreichbar scheinen. Die Aufmerksamkeit oft mehr bei allen anderen als bei sich selbst.

Pech

Ja, das gibt es leider auch. Selbst wenn man alles richtig macht. Dafür kann man nichts.

Das Gefühl nicht „umsonst“ angereist zu sein

Zum Schluss gibt es auch noch einen wesentlichen Punkt. Viele Leute reisen für Jams von weit weg an und geben Geld für die Reise, Unterkunft, Verpflegung etc. aus.

Daher will man nicht wieder mit dem Gefühl abreisen, dass man nicht alles mitgenommen hat was ging. So viele Sprünge machen wie es nur geht, so viele neue Sachen lernen wie möglich und sich bis zum äußersten zu pushen. Die wenigsten geben sich damit zufrieden, dass die Jam sie inspiriert hat und ihnen neue Ideen und Möglichkeiten gezeigt hat, die sie zu Hause in ihrem Training umsetzen können.

Abschließende bleibt mir nur zu sagen, dass ich kein Soziologe oder Wissenschaftler bin und mich mit meinen Überlegungen auch irren kann. Aber mir scheinen dies doch sehr plausible Gründe für die erhöhte Verletzungsquote bei Jams. Ich hoffe, dass sich einige darüber Gedanken machen und in Zukunft mehr auf solche Zusammenhänge achten und bei Jams auch solchen Entwicklungen entgegenwirken. Sei es direkt bei der Organisation oder im Gesprächen mit den anderen Teilnehmern.

„Im Gebirge der Wahrheit kletterst du nie umsonst: Entweder du kommst schon heute weiter hinauf oder übst deine Kräfte, um morgen höher steigen zu können“ – F. Nietzsche. Passt auf euch auf.

Text von: ENIS MASLIC
Bilderquellen: KRAP, FAMJAM, HELLO SUMMER JAM KASSEL

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